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OJ 10/1, [20] - Handwritten letter from Dahms to Schenker, dated June 15, 1916
Dass ich erst heute auf Ihre freundliche Karte von Ende Mai 2 antworte, hat seine Gründe in meinem Militär-Dasein. Ich hatte gerade um die Monatswende allerlei ärztliche Untersuchungen zu bestehen. Meine Frist, hier im Erholungsheim bleiben zu können, wurde wieder ein wenig verlängert; aber man hat nur immer das Gefühl einer Galgenfrist. Unterdessen bemühe ich mich krampfhaft, hier in Berlin bei einer militärischen Behörde unterzukommen, um wenigstens {2} eine für den Staat und mich nutzbringende Tätigkeit auszuüben. Aber es gelingt mir nirgends. Am Kriegspresseamt werden in der Hauptsache, der Disziplin wegen, nur Offiziere eingestellt. Und an anderen Behörden behilft man sich auch lieber mit 5 schwerfälligen, geistiger Arbeit eigentlich ungewohnten Kräften, als mit einem, der diese Dienste spielend erledigen könnte. Nun ist es nicht a usngeschlossen, dass man mich nach Wilna in die Deutsche Verwaltung holt. Das ist ja weniger schön als Berlin, aber immerhin noch besser, als Kasernenreinigen und Kartoffelschälen in der Garnison, wozu man leider auch die geistigen Kräfte in Deutschland verbraucht. – {3} Soll ich mein Leiden als das bezeichnen, was es ist, so sage ich, es ist Kriegsspÿchose. Ein furchtbarer seelischer Druck lastet auf mir; die kostbarste Zeit verstreicht; die Gesundheit wird immer mehr untergraben; beim Versuch, zu arbeiten, verspritzen die Nerven förmlich. Ich habe die grösste Mühe, ein wertvolles Buch zu lesen. Die Melancholie wird immer stärker, da ich ja meinen Ärzten nicht sagen kann, was mir eigentlich fehlt. Denn ich bin nicht Mensch, sondern Soldat. Eine bittere Wahrheit für den, der seelisch mehr als körperlich krank ist. Ein paar Zeilen über op. 111 habe ich in der Kreuz-Zeitung ge- {4} bracht; 3 ich konnte leider nicht Ihres Werkes würdiger schreiben. Das soll später geschehen. – Darf ich Ihnen nun noch zu Ihrem bevorstehenden Geburtstag die Hand drücken und wünschen, dass der nächste ein „friedlicher“ sein möge? – Ich wünsche vor allem, dass wenigstens Sie von der direkten Teilnahme am Krieg freibleiben, um weiter arbeiten zu können. © Transcription John Koslovsky, 2012 |
That I am only now replying to your kind card from the end of May 2 has to do with my existence in the military. Around the turn of the month I had to pass all sorts of medical examinations. My period of time to stay at the recovery home was lengthened a little. But one always has the feeling of a reprieve. In the meantime I am frantically seeking employment in Berlin with a military office, in order to at least {2} hold a position that is useful for the State and for myself. But I have not been able to achieve this anywhere. At the war press office, only officers are given positions for the most part, on account of discipline. And at other offices one prefers to take on five dull intellectual tasks with unusual energy rather than a single task, just in order to carry out this service easily. Now it has not been ruled out that I will be sent to Wilna in the German administration. That is not as nice as Berlin, but much better than cleaning barracks and peeling potatoes in the garrison, whereby one also unfortunately uses up intellectual energies in Germany. – {3} If I were to describe my suffering for what it is, I would say it is war psychosis. A dreadful mental pressure weighs down on me; valuable time goes by; my health erodes more and more; and at every attempt to work my nerves fall to pieces. I have the greatest trouble reading a worthwhile book. Melancholy becomes ever stronger, to the point that I cannot even tell my doctor what is actually wrong with me. I am not a person, but a soldier. A bitter truth for him who is sick more mentally than physically. I have written a few lines about Op. 111 in the Kreuz-Zeitung ; 3 {4} unfortunately I could not write about your work in a more dignified way. That will happen later. – May I shake your hand on your upcoming birthday and wish that the next one is a more "peaceful" one? – I wish above all that at least you may remain free from direct participation in the war, in order to continue working. © Translation John Koslovsky, 2012 |
Dass ich erst heute auf Ihre freundliche Karte von Ende Mai 2 antworte, hat seine Gründe in meinem Militär-Dasein. Ich hatte gerade um die Monatswende allerlei ärztliche Untersuchungen zu bestehen. Meine Frist, hier im Erholungsheim bleiben zu können, wurde wieder ein wenig verlängert; aber man hat nur immer das Gefühl einer Galgenfrist. Unterdessen bemühe ich mich krampfhaft, hier in Berlin bei einer militärischen Behörde unterzukommen, um wenigstens {2} eine für den Staat und mich nutzbringende Tätigkeit auszuüben. Aber es gelingt mir nirgends. Am Kriegspresseamt werden in der Hauptsache, der Disziplin wegen, nur Offiziere eingestellt. Und an anderen Behörden behilft man sich auch lieber mit 5 schwerfälligen, geistiger Arbeit eigentlich ungewohnten Kräften, als mit einem, der diese Dienste spielend erledigen könnte. Nun ist es nicht a usngeschlossen, dass man mich nach Wilna in die Deutsche Verwaltung holt. Das ist ja weniger schön als Berlin, aber immerhin noch besser, als Kasernenreinigen und Kartoffelschälen in der Garnison, wozu man leider auch die geistigen Kräfte in Deutschland verbraucht. – {3} Soll ich mein Leiden als das bezeichnen, was es ist, so sage ich, es ist Kriegsspÿchose. Ein furchtbarer seelischer Druck lastet auf mir; die kostbarste Zeit verstreicht; die Gesundheit wird immer mehr untergraben; beim Versuch, zu arbeiten, verspritzen die Nerven förmlich. Ich habe die grösste Mühe, ein wertvolles Buch zu lesen. Die Melancholie wird immer stärker, da ich ja meinen Ärzten nicht sagen kann, was mir eigentlich fehlt. Denn ich bin nicht Mensch, sondern Soldat. Eine bittere Wahrheit für den, der seelisch mehr als körperlich krank ist. Ein paar Zeilen über op. 111 habe ich in der Kreuz-Zeitung ge- {4} bracht; 3 ich konnte leider nicht Ihres Werkes würdiger schreiben. Das soll später geschehen. – Darf ich Ihnen nun noch zu Ihrem bevorstehenden Geburtstag die Hand drücken und wünschen, dass der nächste ein „friedlicher“ sein möge? – Ich wünsche vor allem, dass wenigstens Sie von der direkten Teilnahme am Krieg freibleiben, um weiter arbeiten zu können. © Transcription John Koslovsky, 2012 |
That I am only now replying to your kind card from the end of May 2 has to do with my existence in the military. Around the turn of the month I had to pass all sorts of medical examinations. My period of time to stay at the recovery home was lengthened a little. But one always has the feeling of a reprieve. In the meantime I am frantically seeking employment in Berlin with a military office, in order to at least {2} hold a position that is useful for the State and for myself. But I have not been able to achieve this anywhere. At the war press office, only officers are given positions for the most part, on account of discipline. And at other offices one prefers to take on five dull intellectual tasks with unusual energy rather than a single task, just in order to carry out this service easily. Now it has not been ruled out that I will be sent to Wilna in the German administration. That is not as nice as Berlin, but much better than cleaning barracks and peeling potatoes in the garrison, whereby one also unfortunately uses up intellectual energies in Germany. – {3} If I were to describe my suffering for what it is, I would say it is war psychosis. A dreadful mental pressure weighs down on me; valuable time goes by; my health erodes more and more; and at every attempt to work my nerves fall to pieces. I have the greatest trouble reading a worthwhile book. Melancholy becomes ever stronger, to the point that I cannot even tell my doctor what is actually wrong with me. I am not a person, but a soldier. A bitter truth for him who is sick more mentally than physically. I have written a few lines about Op. 111 in the Kreuz-Zeitung ; 3 {4} unfortunately I could not write about your work in a more dignified way. That will happen later. – May I shake your hand on your upcoming birthday and wish that the next one is a more "peaceful" one? – I wish above all that at least you may remain free from direct participation in the war, in order to continue working. © Translation John Koslovsky, 2012 |
Footnotes
1 Receipt of this letter is recorded in
Schenker's diary at OJ 2/2, pp. 290‒91, June 17, 1916: "Brief von Dahms mit beiliegendem
Referat aus der Kreuzzeitung vom 14. VI. 16, beide sehr erfreulich. Mit besonderer Genugtuung
empfand ich es, daß er im Referat die politischen
Anspielung citiert u. hervorgehoben. Möchte sie
[?wie] allezeit zu jedem Leser so
sprechen, wie sie von mir empfunden u. gedacht wurde, u. möchte der Leser von allem
durch mich
durch sie
in jene Atmosphäre versetzt werden, in der allein
erich das echt Deutsche eines Beethovenschen Genies sich so
recht zum Bewußtsein bringen kann, zum Erkenntnis sowohl der spezifischen Tiefe,
als auch seines spezifisch deutschen Wesens. Ist die Kenntnis eines Volkscharakters als einer
Naturanlage so unerläßlich, wie in einer anderen Hinsicht auch die Kenntnisnahme von Irrtümern
u. sei es von solchen Irrtümern, die Deutsche an den Deutschesten begingen. Und noch ein
Zweites: So wenig ich irgend einen Wert darauf lege, so bereitet es mir doch Freude, daß Herr
Dahms meines Geburtstages gedachte um eine Zeit, da er sogar meinen nächsten Angehörigen u.
Freunden, Schülern u. Schülerinnen ent
rückt war
fallen zu sein scheint
. Es ist übrigens auch das erste Zeichen überhaupt, daß ein fremder Mensch in
dieser Art
von sich gibt
mir entgegen[?frugt]
. 2 Writing of this postcard is recorded in Schenker's diary at OJ 2/2, p. 266, May 27, 1916: "Karte an Dahms mit Anfrage nach Befinden." ("Postcard to Dahms with inquiry after his health.").
3 Walter
Dahms, "Neue Musikliteratur,"
Kreuzzeitung, June 14, 1916, the clipping of which
is preserved as OC 2/p. 49. The German text is as follows:
Dr. Heinrich Schenker, der in Wien lebende und schaffende Musiktheoretiker, setzt sein großes Unternehmen der Erläuterungsausgaben von Beethovens letzten fünf Klaviersonaten fort. Soeben ist op. 111 im Verlage der Universal-Edition erschienen. Im ersten Jahre des Weltkrieges ist die umfangreiche Arbeit zu op. 111 entstanden, ein großartiger Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes. „So steige denn die deutsche Nation, die fähigste der Erde, mit Talenten und Fähigkeiten reicher als selbst die griechische und römische ausgestattet, auf den Thron und bestehe darauf, daß die Kleineren ihre Größe endlich verstehen und dankbar würdigen lernen. Ob sie wollen oder nicht! Und sei es, daß der Kleinere um die Wohltaten überhaupt nur empfangen zu lernen, dazu erst zwangsweise verhalten, ja wie ein Kind vom Vater gezüchtigt werden müsste. ‒ es geschehe!“ So steht im Vorwort zu lesen. Und Schenker spart nicht mit der Härte des von seinem hohen Amt durchdrungenen Wahrheitskämpfers, nicht mit der ach so notwendigen Polemik gegen die Fälscher und Schmarotzer. Er jagt mit leidenschaftlicher Ueberzeugung die Wechsler und Schacherer aus dem Tempel der Kunst. Er predigt immer wieder Ehrfurcht vor dem Genie. Er führt uns zum wirklichen Verständnis Beethovens, indem er an der Hand des Werkes selbst die Irrtümer all der Herausgeber, Verbesserer und Erklärer des Meisters nachweist und uns einen tiefen Einblick in die Geisteswerkstatt Beethovens gewährt. Unermeßlichen Nutzen können wir daraus für uns entnehmen, wenn wir uns nur willig der Belehrung durch Schenker unterziehen. Was er sagt, das ist alles so ungeheur einleuchtend, so unbestreitbar ‒ weil fest verankert ‒ so überzeugend wahr und einfach, daß man gar nicht begreifen kann, wie sich noch Musiker oder solche, die es gern sein wollen, degegen sträuben können, nur weil Schenker mit einigen bisher für unantastbar gehaltenen Beethovenverbesserern in notwendig scharfer Form Abrechnung hält. Wir bewundern bei Schenkers Erläuterungsausgabe der Klaviersonate op. 111 ‒ wie schon bei den früher veröffentlichten Werken über die Sonaten op. 109 und 110 und die „Neunte Symphonie“ ‒ die tiefschürfende Darstellung des Inhalts ebenso wie die überlegene Art der Literaturbetrachtung. Ein Künstler von unfassendster Geistesbildung, von höchstem Idealismus beseelt, reicht hier allen die Hand, die ehrlich bestrebt sein wollen, das Genie in der ungeheuren Größe und Erhabenheit seiner Aeusserungen zu verstehen. Die „Vorbemerkung zur Einführung“ reechnet [sic] unerbittlich mit den Mächlern im Reiche der Kunst ab; peinlich für die Betroffenen ist, daß Schenker nich nur dokumentarische Beweise für seine Behauptungen bringt, sondern überhaupt seine Gedanken mit einer so vernichtenden Logik als unumstößliche Mauer errichtet, daß es vergebens wäre, dagegen Sturm laufen zu wollen. Die „Einführung“ selbst befaßt sich nun in genial nachschaffender Weise mit dem Inhalt des Werkes, der in ausführlichster Weise erläutert und dargestellt wird. Dem Genie wird den Verbesserern gegenüber zu seinem Recht verholfen, eben durch den Willen des Genies selbst. Die Skizzenbücher Beethovens und die Erstausgaben, die er selbst veranstaltet, geben die notwendigen Beweise. Der Leser kommt hier an eine Fundgrube musikalischen Wissens und Könnens, die unerschöplich ist. In dem Kapitel „Literatur“ fertigt Schenker die Beethovenerklärer ab, die Schindler, Marx, Lenz, Nagel, und Bekker; namentlich der letzte, diese lärmende und dabei so unfähige Gernegroß der Frankfurter Zeitung, erhält endlich die gebührende Züchtigung. Leidenschaftlich zieht Schenker auch den Weltkrieg in den Kreis seiner umfassenden Betrachtungen, arm vor allem den ruchlosen, verbrecherischen Krämergeist Englands zu brandmarken. Die Sonate op. 111 selbst ist uns nun im unverfälschten
Text Beethovens dargeboten. Die allersorgfältigste Bezeichnung des Fingersatzes läßt keine
Irrtümer und Schwankungen mehr aufkommen. Schenker erwirbt sich mit der Herausgeber den Dank
der Kulturwelt, die in Beethoven eine ihrer erhabensten Größen verehrt. Möge sie auch die
harte Arbeit nicht scheuen die nun einmal notwendig ist, um zum wahren Verständnis des Genies
und seines Schaffens zu gelangen. |