Browse by
OJ 15/16, [26] - Handwritten letter, with original poetry, from Weisse to Schenker, dated July 3, 1916
Zum Zeichen meiner Gesundung sende ich diese beiden Gedichte und bitte Sie um Ihr und der lieben gnädigen Frau Urteil!
Der alte Jude.
—Mehr sahst Du, Jude, als was Dein Blick Dem kleinen Fenster abgewinnen konnte; Dort sitzest Du, bedächtig, beugst zurück Das Greisenhaupt, das anders nie sich sonnte, Als sännest Du seit Ewigkeiten. Dann wieder sucht Dein Aug’ die heilge Schrift, Da liessest Du, liebkost die toten Zeichen, Und lispelst, in der Worten Sinn vertieft, Still vor dich hin; und immer sind’s des gleichen Ehrwürdigen Folianten braune Seiten. {2} Nun manchmal macht dein Aug vom Buch sich frei, Begegnet fremdem Blick mit seltner Treue, – Doch hält es ihm nicht stand; wer es auch sei, So senkt es sich, als ob’s vor ihm sich scheue: Du fürchtest Dich vor fremden Leuten. Und trägst dein immerwaches Leid zur Ruh Von Neuem in des Buches Widersprüchen: Dem Tag, der Nacht entfremdet, drückest Du So nieder eine Last von wilden Flüchen, Hartnäckig Einsamer, mit irrem Deuten.
{3}
Die Dirne.
—Nie hat ihr Auge, nie ihr Mund gelacht, Nie röteten sich ihre blassen Wangen; Nur in den Augenblicken, da sie unbewacht, Singt sie ein Kinderlied, von keuschem Sinne Und wird sich plötzlich aller Qualen inne, Die sie erduldet Tag für Tag, gefangen In diesem Haus, in das ein Jude sie gebracht. Wo ist es dunkel, dass sie dort, verweint Sich berge vor des Tages frechen Blicken? O, wenn die unbarmherzge Sonne scheint, Wie schmerzt es sie, zu stehn in ihrem Glanze: Ihr wird das Licht zu einem Dornen Kranze Einst, weiss sie, war es da, sie zu entzücken Doch heute, martert, höhnt es sie und ist ihr Feind. {4} Der Finsternis vertraut sie nur und rauft In wildem Schmerze sich de goldnen Haare! Du, süsser Traum, vermagst die Mädchenjahre Mit ihren zärtlichen und lieblich-keuschen Gedanken noch der Armen vorzutäuschen, Indessen sie, als angepriesne Waare, Ein altes Weib, den Männern Nacht um Nacht verkauft. Brzezany, 3/7 16. © Transcription William Drabkin, 2008 |
As a sign of my recovery I am sending you these two poems and ask you and your dear lady for your opinion of them!
The Old Jew
—You saw more, Jew, than your eyes Could absorb from the little window; There you sit, pensive, leaning back That hoary head, which otherwise no sun did bathe, As if ages spent in contemplation. Your eye then seeks the Holy Scripture anew And you read, caressing the dead symbols And whispering, lost in the meaning of the words, Quietly to yourself; ever the brown pages Of the same venerable tome. {2} Sometimes your eye now leaves the book, Meets a stranger’s glance with uncommon trust, – But, no matter whose, it cannot hold out; The glance is lowered, shrinking away, Strangers fill you with fear. And you lay your ever wakeful sorrow to rest Afresh in the contradictions of the Book: From day and night estranged, you suppress A burden of wild oaths, Stubborn, solitary, shades of confusion.
{3}
The Harlot
—Laughter has never touched her eyes or lips Nor a blush her pale cheeks; Only in moments unguarded, Chaste, she sings a nursery rhyme, Conscious at once of all those pains Suffered day on day, entrapped In this house, fetched here by a Jew. Where is there darkness for her to weep, That she might hide from daylight’s brazen glance? Oh, when the sun shines with no mercy How it pains her to stand in its glare, The light is to her as a crown of thorns. Yet she knows how once it gave delight But, her enemy now, it torments and scorns. {4} ‘Tis only darkness now she trusts, and tears Her golden locks in savage grief! Sweet dream, you used those maiden years, With thoughts so gentle, pure and chaste, To give false promise to the unhappy one, Whilst she, traded goods, has sold herself, An old woman, to men, night after night. Brzezany, July 3, 1916 © Translation Alison Hiley, 2008 |
Zum Zeichen meiner Gesundung sende ich diese beiden Gedichte und bitte Sie um Ihr und der lieben gnädigen Frau Urteil!
Der alte Jude.
—Mehr sahst Du, Jude, als was Dein Blick Dem kleinen Fenster abgewinnen konnte; Dort sitzest Du, bedächtig, beugst zurück Das Greisenhaupt, das anders nie sich sonnte, Als sännest Du seit Ewigkeiten. Dann wieder sucht Dein Aug’ die heilge Schrift, Da liessest Du, liebkost die toten Zeichen, Und lispelst, in der Worten Sinn vertieft, Still vor dich hin; und immer sind’s des gleichen Ehrwürdigen Folianten braune Seiten. {2} Nun manchmal macht dein Aug vom Buch sich frei, Begegnet fremdem Blick mit seltner Treue, – Doch hält es ihm nicht stand; wer es auch sei, So senkt es sich, als ob’s vor ihm sich scheue: Du fürchtest Dich vor fremden Leuten. Und trägst dein immerwaches Leid zur Ruh Von Neuem in des Buches Widersprüchen: Dem Tag, der Nacht entfremdet, drückest Du So nieder eine Last von wilden Flüchen, Hartnäckig Einsamer, mit irrem Deuten.
{3}
Die Dirne.
—Nie hat ihr Auge, nie ihr Mund gelacht, Nie röteten sich ihre blassen Wangen; Nur in den Augenblicken, da sie unbewacht, Singt sie ein Kinderlied, von keuschem Sinne Und wird sich plötzlich aller Qualen inne, Die sie erduldet Tag für Tag, gefangen In diesem Haus, in das ein Jude sie gebracht. Wo ist es dunkel, dass sie dort, verweint Sich berge vor des Tages frechen Blicken? O, wenn die unbarmherzge Sonne scheint, Wie schmerzt es sie, zu stehn in ihrem Glanze: Ihr wird das Licht zu einem Dornen Kranze Einst, weiss sie, war es da, sie zu entzücken Doch heute, martert, höhnt es sie und ist ihr Feind. {4} Der Finsternis vertraut sie nur und rauft In wildem Schmerze sich de goldnen Haare! Du, süsser Traum, vermagst die Mädchenjahre Mit ihren zärtlichen und lieblich-keuschen Gedanken noch der Armen vorzutäuschen, Indessen sie, als angepriesne Waare, Ein altes Weib, den Männern Nacht um Nacht verkauft. Brzezany, 3/7 16. © Transcription William Drabkin, 2008 |
As a sign of my recovery I am sending you these two poems and ask you and your dear lady for your opinion of them!
The Old Jew
—You saw more, Jew, than your eyes Could absorb from the little window; There you sit, pensive, leaning back That hoary head, which otherwise no sun did bathe, As if ages spent in contemplation. Your eye then seeks the Holy Scripture anew And you read, caressing the dead symbols And whispering, lost in the meaning of the words, Quietly to yourself; ever the brown pages Of the same venerable tome. {2} Sometimes your eye now leaves the book, Meets a stranger’s glance with uncommon trust, – But, no matter whose, it cannot hold out; The glance is lowered, shrinking away, Strangers fill you with fear. And you lay your ever wakeful sorrow to rest Afresh in the contradictions of the Book: From day and night estranged, you suppress A burden of wild oaths, Stubborn, solitary, shades of confusion.
{3}
The Harlot
—Laughter has never touched her eyes or lips Nor a blush her pale cheeks; Only in moments unguarded, Chaste, she sings a nursery rhyme, Conscious at once of all those pains Suffered day on day, entrapped In this house, fetched here by a Jew. Where is there darkness for her to weep, That she might hide from daylight’s brazen glance? Oh, when the sun shines with no mercy How it pains her to stand in its glare, The light is to her as a crown of thorns. Yet she knows how once it gave delight But, her enemy now, it torments and scorns. {4} ‘Tis only darkness now she trusts, and tears Her golden locks in savage grief! Sweet dream, you used those maiden years, With thoughts so gentle, pure and chaste, To give false promise to the unhappy one, Whilst she, traded goods, has sold herself, An old woman, to men, night after night. Brzezany, July 3, 1916 © Translation Alison Hiley, 2008 |