Kiel, 7. IX. 19.
Feldstr 77IV.

Sehr geehrter Herr Dr. Schenker!

Endlich 1 komme ich dazu, Ihnen für Ihre liebe Karte vom 31. III. 2 zu danken. Sie war mir eine kleine Aufmunterung in den pessimistischen Gedanken, die uns Frontkrieger bei der Rückkehr in die Heimat anwandelten. Gesiegt hat die Entente keineswegs. Aber man hat doch ein sehr bitteres Gefühl, dass wir für diese Narrenzustände jetzt in Deutschland 4½ Jahre draussen im Dreck gelegen und seine unsre besten Mannesjahre vom 36. bis zum 40! geopfert haben. Das schlimmste ist, dass ich vorläufig den Glauben an die Nation verloren habe: überall nur der krassste Egoismus, der nakte, brutale englische Geschäftssinn; für ein Pfund Butter verkäufen heute 99% der Menschheit ihre Seele. Von Charakter keine Spur mehr! Ein trauriges Geschlecht. Von unsrer Generation erhoffe ich nichts mehr. Unsre Kinder werden die Schmach, {2} die uns diese aufgeblasenen eitlen Affen von Franzosen jetzt täglich antun, hoffentlich einst rächen. 3 Das ist mein glühender Wunsch. –

Was mich angeht, so soll meine Kraft der Rettung der Musik gehören, und ich hoffe, dass die äussere Not die innere Sammlung von selbst erzeugen wird. Wie gerne hätte ich bei Ihnen noch studiert, aber bei diesen Verhältnissen ist das unmöglich. Als Drucksache schicke ich Ihnen eine Chaconne für Klavier, die ich nach der Rückkehr aus dem Felde gemacht habe. Manuscripte wage ich bei der Unsicherheit der Verhältnisse jetzt nicht zu schicken. Und die Herren Verleger nehmen ja nichts. Ich habe manches auf Lager, aber ich wage gar nicht mehr, die Verleger anzugehn.

Seit 1. Sept. bin ich hier wieder 1. Lehrer für Theorie und Komposition am Konservatorium. Wenn nur die Konserv.-directoren mehr Musiker wären als Geschäftsmacher, die Kunst kommt bei den meisten erst in allerletzter Linie. –

Bleiben Sie nun in Wien oder denken Sie noch daran, nach Deutschland übersiedeln?

{3} Ich glaube Ihnen gern, dass es heute für Sie nicht ganz einfach ist, eine neue Zukunft aufzunehmen. Aber man ist ja bei uns auch mit Blindheit geschlagen, dass man Leute wie Sie nicht an die richtige Stelle setzt.

Ich wurde neulich von Dr. Einstein aufgefordet, Ihre letzten Beethovenausgaben zu besprechen i. d. Zeitschrift für Musikwissenschaft (Deutsche Musikgesellschaft). Ich habe aber abgelehnt, weil ich mich noch nicht reif dafür fühle und es mir eine Vermessenheit dünkt, Ihre gewaltige Arbeit und Ihr ungeheueres Wissen unter meine kritische Lupe zu nehmen. Ich habe auch Einstein geantwortet, in 4–5 Jahren würde ich das sehr gern tun. Jetzt nach 4½ Kriegsjahren heisst es, sich wieder gründlich in alles einarbeiten und die inzwischen erschienen Dinge zu verdauen. Später hoffe ich Ihnen und Ihren Werke besser dienen zu können, wenn ich mich dazu voll[ständig] gerüstet fühle. Halbe Dinge sind nicht mein Fall. Ich hoffe, dass Sie diesen meinen Schritt und seine Gründe billigen und bleibe mit besten Gruss


Ihr dankbarer und sehr ergebener
[signed:] Dr. Reinhard Oppel.

© Transcription Timothy L. Jackson, 2010


Kiel, September 7, 1919
Feldstrasse 77IV.

Dear, highly esteemed Dr. Schenker!

Finally 1 I am able to thank you for your kind postcard of March 31. 2 To me it proffered a small encouragement in view of the pessimistic thoughts that overcame us battle-front soldiers upon our return to the homeland. In no wise did the Allies win. But one still has a very bitter feeling that we spent four-and-a-half years out there in the mud and sacrificed the best years of our manhood from 36 to 40 for this craziness now in Germany! The worst thing is that I have for the time being lost my faith in the nation: everywhere only the most base egotism, the naked, brutal English business practices; for a pound of butter, 99% of humanity will sell their soul. Of character, not a trace is left! A sad race. From our generation I expect nothing further. Hopefully, at some point our children will have the opportunity {2} to avenge the disgrace that these inflated, arrogant apes of Frenchmen daily heap upon us. 3 That is my ardent wish. –

For myself, I wish to put my energy into the salvation of music, and I hope that external deprivation will bring forth of itself inner composure. How gladly I still would have studied with you, but under present circumstances that is impossible. As printed matter I am sending you a chaconne for piano that I composed after my return from the field. Under present uncertain circumstances I do not dare to send manuscripts. And the publishers take nothing. I have many things in storage but I hardly consider approaching publishers any more.

Since September 1, I am the principal teacher for theory and composition at the Conservatory. If only the Conservatory directors were more musicians than business types; for most of them art comes at the very end. –

Will you remain in Vienna or are you considering moving to Germany?

{3} I can well understand that it certainly is not easy to believe in a new future. But in our case, people are so blighted with blindness that they cannot properly value people like yourself.

Lately, I was encouraged by Dr. Einstein to review your recent Beethoven editions in the Zeitschrift für Musikwissenschaft (Deutsche Musikgesellschaft). But I turned it down since I do not yet consider myself sufficiently mature and think it presumptuous for me to place your impressive work and enormous learning beneath my critical lens. I answered Einstein that in four to five years I would gladly do it. Now after four-and-a-half years of war the task is to work through everything thoroughly and to digest the things that have appeared in the meantime. Later I hope to be better able to serve you and your work, especially once I feel myself fully armed for the task. Half-way measures are not my thing. I hope that you will approve of my decision and the reasons for it, and remain with best greetings


Your grateful and very faithful
[signed:] Dr. Reinhard Oppel

© Translation Timothy L. Jackson, 2010


Kiel, 7. IX. 19.
Feldstr 77IV.

Sehr geehrter Herr Dr. Schenker!

Endlich 1 komme ich dazu, Ihnen für Ihre liebe Karte vom 31. III. 2 zu danken. Sie war mir eine kleine Aufmunterung in den pessimistischen Gedanken, die uns Frontkrieger bei der Rückkehr in die Heimat anwandelten. Gesiegt hat die Entente keineswegs. Aber man hat doch ein sehr bitteres Gefühl, dass wir für diese Narrenzustände jetzt in Deutschland 4½ Jahre draussen im Dreck gelegen und seine unsre besten Mannesjahre vom 36. bis zum 40! geopfert haben. Das schlimmste ist, dass ich vorläufig den Glauben an die Nation verloren habe: überall nur der krassste Egoismus, der nakte, brutale englische Geschäftssinn; für ein Pfund Butter verkäufen heute 99% der Menschheit ihre Seele. Von Charakter keine Spur mehr! Ein trauriges Geschlecht. Von unsrer Generation erhoffe ich nichts mehr. Unsre Kinder werden die Schmach, {2} die uns diese aufgeblasenen eitlen Affen von Franzosen jetzt täglich antun, hoffentlich einst rächen. 3 Das ist mein glühender Wunsch. –

Was mich angeht, so soll meine Kraft der Rettung der Musik gehören, und ich hoffe, dass die äussere Not die innere Sammlung von selbst erzeugen wird. Wie gerne hätte ich bei Ihnen noch studiert, aber bei diesen Verhältnissen ist das unmöglich. Als Drucksache schicke ich Ihnen eine Chaconne für Klavier, die ich nach der Rückkehr aus dem Felde gemacht habe. Manuscripte wage ich bei der Unsicherheit der Verhältnisse jetzt nicht zu schicken. Und die Herren Verleger nehmen ja nichts. Ich habe manches auf Lager, aber ich wage gar nicht mehr, die Verleger anzugehn.

Seit 1. Sept. bin ich hier wieder 1. Lehrer für Theorie und Komposition am Konservatorium. Wenn nur die Konserv.-directoren mehr Musiker wären als Geschäftsmacher, die Kunst kommt bei den meisten erst in allerletzter Linie. –

Bleiben Sie nun in Wien oder denken Sie noch daran, nach Deutschland übersiedeln?

{3} Ich glaube Ihnen gern, dass es heute für Sie nicht ganz einfach ist, eine neue Zukunft aufzunehmen. Aber man ist ja bei uns auch mit Blindheit geschlagen, dass man Leute wie Sie nicht an die richtige Stelle setzt.

Ich wurde neulich von Dr. Einstein aufgefordet, Ihre letzten Beethovenausgaben zu besprechen i. d. Zeitschrift für Musikwissenschaft (Deutsche Musikgesellschaft). Ich habe aber abgelehnt, weil ich mich noch nicht reif dafür fühle und es mir eine Vermessenheit dünkt, Ihre gewaltige Arbeit und Ihr ungeheueres Wissen unter meine kritische Lupe zu nehmen. Ich habe auch Einstein geantwortet, in 4–5 Jahren würde ich das sehr gern tun. Jetzt nach 4½ Kriegsjahren heisst es, sich wieder gründlich in alles einarbeiten und die inzwischen erschienen Dinge zu verdauen. Später hoffe ich Ihnen und Ihren Werke besser dienen zu können, wenn ich mich dazu voll[ständig] gerüstet fühle. Halbe Dinge sind nicht mein Fall. Ich hoffe, dass Sie diesen meinen Schritt und seine Gründe billigen und bleibe mit besten Gruss


Ihr dankbarer und sehr ergebener
[signed:] Dr. Reinhard Oppel.

© Transcription Timothy L. Jackson, 2010


Kiel, September 7, 1919
Feldstrasse 77IV.

Dear, highly esteemed Dr. Schenker!

Finally 1 I am able to thank you for your kind postcard of March 31. 2 To me it proffered a small encouragement in view of the pessimistic thoughts that overcame us battle-front soldiers upon our return to the homeland. In no wise did the Allies win. But one still has a very bitter feeling that we spent four-and-a-half years out there in the mud and sacrificed the best years of our manhood from 36 to 40 for this craziness now in Germany! The worst thing is that I have for the time being lost my faith in the nation: everywhere only the most base egotism, the naked, brutal English business practices; for a pound of butter, 99% of humanity will sell their soul. Of character, not a trace is left! A sad race. From our generation I expect nothing further. Hopefully, at some point our children will have the opportunity {2} to avenge the disgrace that these inflated, arrogant apes of Frenchmen daily heap upon us. 3 That is my ardent wish. –

For myself, I wish to put my energy into the salvation of music, and I hope that external deprivation will bring forth of itself inner composure. How gladly I still would have studied with you, but under present circumstances that is impossible. As printed matter I am sending you a chaconne for piano that I composed after my return from the field. Under present uncertain circumstances I do not dare to send manuscripts. And the publishers take nothing. I have many things in storage but I hardly consider approaching publishers any more.

Since September 1, I am the principal teacher for theory and composition at the Conservatory. If only the Conservatory directors were more musicians than business types; for most of them art comes at the very end. –

Will you remain in Vienna or are you considering moving to Germany?

{3} I can well understand that it certainly is not easy to believe in a new future. But in our case, people are so blighted with blindness that they cannot properly value people like yourself.

Lately, I was encouraged by Dr. Einstein to review your recent Beethoven editions in the Zeitschrift für Musikwissenschaft (Deutsche Musikgesellschaft). But I turned it down since I do not yet consider myself sufficiently mature and think it presumptuous for me to place your impressive work and enormous learning beneath my critical lens. I answered Einstein that in four to five years I would gladly do it. Now after four-and-a-half years of war the task is to work through everything thoroughly and to digest the things that have appeared in the meantime. Later I hope to be better able to serve you and your work, especially once I feel myself fully armed for the task. Half-way measures are not my thing. I hope that you will approve of my decision and the reasons for it, and remain with best greetings


Your grateful and very faithful
[signed:] Dr. Reinhard Oppel

© Translation Timothy L. Jackson, 2010

Footnotes

1 Receipt of this letter is recorded in Schenker's diary at OJ 2/14, pp. 2142–2143, September 13, 1919: "von Oppel (Brief mit beigelegter Chaconne): erzählt unter anderem, wie er vom Herausgeber einer Musik-Zeitschrift aufgefordert über mich zu schreiben, dies mit der Begründung ablehnte, selbst noch nicht so weit zu sein, um dies fertig zu bringen;" ("from Oppel (letter with enclosed chaconne): among other things, tells how he was asked by the publisher of a music magazine to write about me, which he refused on grounds that he is himself not yet advanced enough to do that; ").

2 The writing of this postcard, which is not known to survive, is not recorded in Schenker's diary.

3 This indignation at Clemenceau's plans for vengeance through the dictates of the Versailles Treaty was widely felt by Germans. [Kurt Oppel]