18. IX. 16 Fast wolkenlos, kühl, 5°.
— Von Herrn Colbert (Br.): kann leider meinen „Wunsch“ nicht erfüllen, da nachdem seit einigen Tagen Herr Pisling engagiert worden sei; dieser übrigens lege Wert auf meine Bekanntschaft usw. — An Colbert (Br.OC 1B/13): Dank für gestrige Mitteilung; stelle richtig den „Wunsch“ als bloßen Reflex gegenüber einer Anfrage, die seinerzeit seine Frau diesbezüglich an mich gerichtet hat; zu betreffs Pisling s bemerke ich, daß er mich doch schon seit langem kennt, wie auch ich ihn persönlich seit vielen Jahren kenne (Brief liegt der Sammlung bei!). 1 — Von Hupka (K.): ist zu Schreiberdiensten bestimmt worden; kündigt eventuell Besuch an! — Schon nach dem Frühstück einige Wege: Zur Post mehrere Zahlungen gebracht; Lie-Liechen erhascht das letzte Brot, 2 (!) dkg Butter für 22 h usw. Zwetschken nach wie vor keine, denn lieber als dem {428} Höchstpreis 2 gibt er der Händler sie dem Verderben preis! Ganz in der Frühe erscheint der Werkführer von Medek u. konstatiert, daß eine Leitung von außen erst angebracht werden müßte! — *Leichter ist fürs Vaterland sterben, als leben! Auch leichter für eine Religion auf den Scheiterhaufen zu steigen, als sie auszuüben. Nicht gerade also ein Uebermaß an Heroismus liegt in allen solchen Fällen vor; , denn Helden gibt es so wenig als wahre Genies; nur ist es eben die leichteste Form der Auseinandersetzung mit dem den gewaltigen überragenden Problemen des Vaterlandes, der Religion, sonst würden nicht gleich Millionen u. aber Millionen [sic] Menschen die SterbeLösung treffen. — *Liebe: Soweit sie im Menschen Natur ist, ist sie nur ein Teil der ewigen Ur-Kraft des heiligen Eros. Doch sSo sehr sich aber die Menschen bestreben, eine elektrische Kraft, die ja auch ein Teil der unendlichen Naturkraft ist, künstlich zu steigern, so daß sie das Quantum der Kraft in ihre Willkür bekommen, ebenso sehr müßte man endlich damit beginnen, auch die Naturkraft der Liebe über den allerersten dürftigen NaturVorrat hinaus zu steigern. Selbstverständlich obliegt es auch den Frauen, durch Bildung des Intellektes wie des Herzens ihre Liebe emporzusteigern, statt es bei jenem Quantum bewenden zu lassen, das ihnen die Natur in die Wiege mitgegeben hat. Es ist eben falsch zu glauben, es sei das Quantum der Liebeskraft, die dem Menschen von Natur aus gegeben ist, sei schon von Haus aus identisch mit jener Liebessumme, die im Weltwesen aufgestapelt ist. Der Mensch erhält nur einen winzigen Bruchteil u. es ist seine Sache, diese Kraft so zu entwickeln, wie er mit anderen NaturKräften steigernd verfährt[,] analog z. B. Kompositionsgabe. Dies zur Voraussetzung gemacht begreift man erst, wie falsch es auch ist, die vielen Neigungen der Menschen, wie sie in der Folge des Lebens auftreten, als Symptome einer überreichen Naturkraft zu deuten, die immer eines neuen Gegenstandes bedarf, um sich zur Entladung zu bringen. Vielmehr verhält es sich im Gegenteil nur so, daß das minimale Lebensquantum Liebesquantum sich noch nicht einmal zur kleinsten zusammengeballten Einheit zu konzentrieren konnte vermochte, geschweige daß es sich {429} irgendwie, irgendwann zu steigern bestrebt hätte. Bleibt doch das erstes Erfordernis einer Steigerung zumindest doch die Konzentriertheit der Kraft. Nur konzentrierte Kraft kann zur Steigerung gebracht werden, während Zersplitterung zugleich Abschwächung bedeutet. Wie neu müßte man aber nur die Menschheitsgeschichte, wohl aufh auch die Geschichten einzelner Männer u. Frauen neu gelesen werden, wenn man sie von diesem Standpunkt aus sehen wollte! — *Im Caféhaus Leutnant Bednař, der uns manches von der Mama erzählt, besonders von ihrem argen Launen. Seiner Mitteilung nach deutet Wilhelm die Vorliebe der Mama für mich damit, daß ich sie einmal in der Woche für ¼–½ Stunden gesehen hätte, während der ich selbstverständlich die größte Aufmerksamkeit habe entfalten können. Die Eitelkeit läßt den Bruder vergessen, daß die Mutter bei mir ja die meiste Zeit ihres Wiener Aufenthalts zugebracht hat u. auch nachdem sie von mir fortgegangen mehr Besuche von mir empfing, als er, bewußt entstellend, zugibt. Es wäre aber sicher vergeblich, die Vorlagerung der Eitelkeit anzurennen! — *
© Transcription Marko Deisinger. |
September 18, 1916. Almost cloudless, cool, 5°.
— Letter from Mr. Colbert: he cannot unfortunately fulfill my "wish," as Mr. Pisling was appointed a few days ago; he, moreover, values my acquaintance. — LetterOC 1B/13 to Colbert; thanks for his reply of yesterday; I correct the "wish" as a mere reaction with respect to a question about the matter, which his wife addressed to me. With regard to Pisling, I observe that he has known me a long time; and I, too, have known him personally for many years (the letter has been copied to the collection!) 1 — Postcard from Hupka: he has been assigned to writing services; announces a possible visit! — Right after breakfast, a few errands: several payments made at the post office; Lie-Liechen gets the last loaf of bread; 2 (!) decagrams of butter for 22 Heller, etc. Still no plums; for the merchants would rather let them rot than give up obtaining the highest price for them! 2 {428} The foreman from Medek appears very early, and confirms that a connection must first be made from outside! — *It is easier to die than to live for the fatherland! Also easier to pile a religion upon a funeral pyre than to practice it. There is not actually an excess of heroism in all such cases, for heroes are as rare as true geniuses; it is just the very easiest form of coming to terms with the gigantic, towering problems of the fatherland, and of religion; otherwise millions, billions of people would not immediately find the solution to death. — *Love: as far as it lies in human nature, it is only a part of the eternal, primal force of sacred Eros. But so much as people strive to increase an electrical force artificially, which is indeed only part of the infinite force of nature, so that they receive the quantum of the force in their arbitrariness, they must finally begin also to increase the natural power of love beyond the very first scanty natural provision. It goes without saying that women, too, should raise up their love, by the education of the intellect as well as the heart, instead of letting it go at that quantum which nature has accorded them in the cradle. It is actually wrong to believe that the quantum of love-force that is given to people from nature is automatically identical to the sum of love that it is amassed in the world's being. A person will receive only a tiny portion of it; and it is his task to develop this force, as he does with other forces of nature, analogously with the gift of composition, for example. To make this a presupposition is something that one will only understand [when one has understood] how wrong it also is to regard the many inclinations of humans that surface in the course of one's life as symptoms of an overabundant natural force, which is forever in need of a new object in order to be discharged. On the contrary, it happens that the very smallest quantum of love is incapable of being concentrated into the tiniest massed unity, to say nothing that it has ever striven somehow, sometime, to enhance itself. {429} But the first requirement of an enhancement remains, at least, the concentration of force. Only a concentrated force results in enhancement, whereas fragmentation always means weakening. But how the history of humanity must merely be read in new way – and surely, too, the history of individual men and women, if we are to see them from this standpoint! — *At the coffee house, Lieutenant Bednař, who tells us much about my mother, especially about her disagreeable moods. From what he says, Wilhelm attributes Mama's preference for me in the grounds that I would see her each week for a quarter to half an hour, as a result of which I could develop the greatest attention. My brother's vanity causes him to forget that our mother spent the most time during her stay in Vienna with me; and even after she had gone away she received more visits from me than he – who deliberately distorts facts – would admit. But it would surely be futile to attack this stockpile of vanity! — *
© Translation William Drabkin. |
18. IX. 16 Fast wolkenlos, kühl, 5°.
— Von Herrn Colbert (Br.): kann leider meinen „Wunsch“ nicht erfüllen, da nachdem seit einigen Tagen Herr Pisling engagiert worden sei; dieser übrigens lege Wert auf meine Bekanntschaft usw. — An Colbert (Br.OC 1B/13): Dank für gestrige Mitteilung; stelle richtig den „Wunsch“ als bloßen Reflex gegenüber einer Anfrage, die seinerzeit seine Frau diesbezüglich an mich gerichtet hat; zu betreffs Pisling s bemerke ich, daß er mich doch schon seit langem kennt, wie auch ich ihn persönlich seit vielen Jahren kenne (Brief liegt der Sammlung bei!). 1 — Von Hupka (K.): ist zu Schreiberdiensten bestimmt worden; kündigt eventuell Besuch an! — Schon nach dem Frühstück einige Wege: Zur Post mehrere Zahlungen gebracht; Lie-Liechen erhascht das letzte Brot, 2 (!) dkg Butter für 22 h usw. Zwetschken nach wie vor keine, denn lieber als dem {428} Höchstpreis 2 gibt er der Händler sie dem Verderben preis! Ganz in der Frühe erscheint der Werkführer von Medek u. konstatiert, daß eine Leitung von außen erst angebracht werden müßte! — *Leichter ist fürs Vaterland sterben, als leben! Auch leichter für eine Religion auf den Scheiterhaufen zu steigen, als sie auszuüben. Nicht gerade also ein Uebermaß an Heroismus liegt in allen solchen Fällen vor; , denn Helden gibt es so wenig als wahre Genies; nur ist es eben die leichteste Form der Auseinandersetzung mit dem den gewaltigen überragenden Problemen des Vaterlandes, der Religion, sonst würden nicht gleich Millionen u. aber Millionen [sic] Menschen die SterbeLösung treffen. — *Liebe: Soweit sie im Menschen Natur ist, ist sie nur ein Teil der ewigen Ur-Kraft des heiligen Eros. Doch sSo sehr sich aber die Menschen bestreben, eine elektrische Kraft, die ja auch ein Teil der unendlichen Naturkraft ist, künstlich zu steigern, so daß sie das Quantum der Kraft in ihre Willkür bekommen, ebenso sehr müßte man endlich damit beginnen, auch die Naturkraft der Liebe über den allerersten dürftigen NaturVorrat hinaus zu steigern. Selbstverständlich obliegt es auch den Frauen, durch Bildung des Intellektes wie des Herzens ihre Liebe emporzusteigern, statt es bei jenem Quantum bewenden zu lassen, das ihnen die Natur in die Wiege mitgegeben hat. Es ist eben falsch zu glauben, es sei das Quantum der Liebeskraft, die dem Menschen von Natur aus gegeben ist, sei schon von Haus aus identisch mit jener Liebessumme, die im Weltwesen aufgestapelt ist. Der Mensch erhält nur einen winzigen Bruchteil u. es ist seine Sache, diese Kraft so zu entwickeln, wie er mit anderen NaturKräften steigernd verfährt[,] analog z. B. Kompositionsgabe. Dies zur Voraussetzung gemacht begreift man erst, wie falsch es auch ist, die vielen Neigungen der Menschen, wie sie in der Folge des Lebens auftreten, als Symptome einer überreichen Naturkraft zu deuten, die immer eines neuen Gegenstandes bedarf, um sich zur Entladung zu bringen. Vielmehr verhält es sich im Gegenteil nur so, daß das minimale Lebensquantum Liebesquantum sich noch nicht einmal zur kleinsten zusammengeballten Einheit zu konzentrieren konnte vermochte, geschweige daß es sich {429} irgendwie, irgendwann zu steigern bestrebt hätte. Bleibt doch das erstes Erfordernis einer Steigerung zumindest doch die Konzentriertheit der Kraft. Nur konzentrierte Kraft kann zur Steigerung gebracht werden, während Zersplitterung zugleich Abschwächung bedeutet. Wie neu müßte man aber nur die Menschheitsgeschichte, wohl aufh auch die Geschichten einzelner Männer u. Frauen neu gelesen werden, wenn man sie von diesem Standpunkt aus sehen wollte! — *Im Caféhaus Leutnant Bednař, der uns manches von der Mama erzählt, besonders von ihrem argen Launen. Seiner Mitteilung nach deutet Wilhelm die Vorliebe der Mama für mich damit, daß ich sie einmal in der Woche für ¼–½ Stunden gesehen hätte, während der ich selbstverständlich die größte Aufmerksamkeit habe entfalten können. Die Eitelkeit läßt den Bruder vergessen, daß die Mutter bei mir ja die meiste Zeit ihres Wiener Aufenthalts zugebracht hat u. auch nachdem sie von mir fortgegangen mehr Besuche von mir empfing, als er, bewußt entstellend, zugibt. Es wäre aber sicher vergeblich, die Vorlagerung der Eitelkeit anzurennen! — *
© Transcription Marko Deisinger. |
September 18, 1916. Almost cloudless, cool, 5°.
— Letter from Mr. Colbert: he cannot unfortunately fulfill my "wish," as Mr. Pisling was appointed a few days ago; he, moreover, values my acquaintance. — LetterOC 1B/13 to Colbert; thanks for his reply of yesterday; I correct the "wish" as a mere reaction with respect to a question about the matter, which his wife addressed to me. With regard to Pisling, I observe that he has known me a long time; and I, too, have known him personally for many years (the letter has been copied to the collection!) 1 — Postcard from Hupka: he has been assigned to writing services; announces a possible visit! — Right after breakfast, a few errands: several payments made at the post office; Lie-Liechen gets the last loaf of bread; 2 (!) decagrams of butter for 22 Heller, etc. Still no plums; for the merchants would rather let them rot than give up obtaining the highest price for them! 2 {428} The foreman from Medek appears very early, and confirms that a connection must first be made from outside! — *It is easier to die than to live for the fatherland! Also easier to pile a religion upon a funeral pyre than to practice it. There is not actually an excess of heroism in all such cases, for heroes are as rare as true geniuses; it is just the very easiest form of coming to terms with the gigantic, towering problems of the fatherland, and of religion; otherwise millions, billions of people would not immediately find the solution to death. — *Love: as far as it lies in human nature, it is only a part of the eternal, primal force of sacred Eros. But so much as people strive to increase an electrical force artificially, which is indeed only part of the infinite force of nature, so that they receive the quantum of the force in their arbitrariness, they must finally begin also to increase the natural power of love beyond the very first scanty natural provision. It goes without saying that women, too, should raise up their love, by the education of the intellect as well as the heart, instead of letting it go at that quantum which nature has accorded them in the cradle. It is actually wrong to believe that the quantum of love-force that is given to people from nature is automatically identical to the sum of love that it is amassed in the world's being. A person will receive only a tiny portion of it; and it is his task to develop this force, as he does with other forces of nature, analogously with the gift of composition, for example. To make this a presupposition is something that one will only understand [when one has understood] how wrong it also is to regard the many inclinations of humans that surface in the course of one's life as symptoms of an overabundant natural force, which is forever in need of a new object in order to be discharged. On the contrary, it happens that the very smallest quantum of love is incapable of being concentrated into the tiniest massed unity, to say nothing that it has ever striven somehow, sometime, to enhance itself. {429} But the first requirement of an enhancement remains, at least, the concentration of force. Only a concentrated force results in enhancement, whereas fragmentation always means weakening. But how the history of humanity must merely be read in new way – and surely, too, the history of individual men and women, if we are to see them from this standpoint! — *At the coffee house, Lieutenant Bednař, who tells us much about my mother, especially about her disagreeable moods. From what he says, Wilhelm attributes Mama's preference for me in the grounds that I would see her each week for a quarter to half an hour, as a result of which I could develop the greatest attention. My brother's vanity causes him to forget that our mother spent the most time during her stay in Vienna with me; and even after she had gone away she received more visits from me than he – who deliberately distorts facts – would admit. But it would surely be futile to attack this stockpile of vanity! — *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 A draft of this letter is preserved in Schenker's copybook, OC 1 B/13. 2 See "Der Höchstpreis im Kleinhandel für Zwetschken und Powidl," Neue Freie Presse, No. 18703, September 15, 1916, morning edition, p. 12. In this sentence, Schenker is punning on the word Preis, meaning (on its own) "price" and (in the verb preisgeben) "to sacrifice." |